Von der TV-Generation im deutschsprachigen Alpenraum verstehen heute viele unter dem Begriff «Volksmusik» die sogenannten Schlager der Volksmusik (siehe «Grosser Preis der Volksmusik») im Musikantenstadl-Stil, vorzugsweise mit Interpreten in trachtenartigen Outfits (Dirndl, Lederhosen, usw.) im Raiffeisenlook von Bayern, Tirol, Salzburg, Steiermark, Kärnten und dem italienischen Südtirol, stark beeinflusst von einem in den 1950er-Jahren aufgekommenen neu-slowenischen Oberkrainer-Musikstil und getragen von viel süssem Schmalz, katholischem Religionskitsch und jenem Stimmungsrhythmus, der zum unvermeidlichen Mitklatschen geradezu animiert.

Schweizer Interpreten, die in dieser Szene mitmischen, erfinden oft spezielle Phantasie-Kostüme mit Dirndl- oder Steireranzug-Einschlag, um nicht äusserlich aus dem Rahmen zu fallen.

Im ganzen alpinen Raum, wie er sich aus den heutigen Teilnehmerregionen am TV-Volksmusikwettbewerb bildet, gibt es daneben natürlich auch echte Volksmusik. Dies sind aus dem Volk, das heisst aus dilettantischen Ursprüngen entstandene und überlieferte Lied- und Tanzweisen, wie sie in der Abgeschiedenheit (fern von städtischen Kulturinstitutionen) als Hausmusik im Familienkreis gepflegt wurden. Winters in der Stube, sommers auf dem Stallbänklein.

Schweiz

Dabei gab und gibt es natürlich regional wesentliche Unterschiede. Es ist unbestritten, dass die volksmusikalische Entwicklung in der Schweiz wesentlich von jener in Österreich beeinflusst wurde. So sind die Urformen des in der Schweiz heute so verbreiteten Schwyzerörgelis und Akkordeons, die Zieh- oder Handharmonikas, in Wien erfunden und erstmals gebaut worden. Ein ins Emmental emigrierter Wiener Handörgelibauer hat dort seine Instrumente «Langnauerli» genannt und auch Ableger seiner Kunst im Kanton Schwyz bewirkt, wo sie zu ungeahnter Blüte gedieh. Irgendwann haben die Kuhreihen und Alpsegen intonierenden Hirten ihre Schalmeien, Sackpfeifen und Drehleiern zur Seite gelegt und sich nach anderen Instrumenten umgesehen, die zum neumodischen Örgeli passen konnten. Überlebt haben dabei die ehemals primitiven Fideln, die zu den gleichen Violinen mutierten, wie sie in der Kunstmusik gebräuchlich sind.

Als Gattung mit direktem Bezug zur ursprünglichen Hausmusik ist uns die Appenzeller Streichmusik erhalten geblieben. Mit Violinen, Cello und Kontrabass sowie dem regionstypischen Hackbrett sind hier Saiteninstrumente im Einsatz, die ihrerseits eine sehr weit zurück reichende Geschichte aufweisen. Das modernistische Akkordeon (und teilweise auch das Klavier) sind wahrscheinlich aus rein praktischen Gründen als personalsparende Multi-Musikmaschinen einmal dazugekommen.

Ebenso ursprünglich mutet die Stilrichtung der Bündner Ländlerkapellen an mit zwei bis drei Klarinetten sowie zwei diatonischen Schwyzerörgeli und Kontrabass als Rhythmusgruppe. Ähnlich, wenn auch als Rarität, kommt der alte Berner-Stil daher.

Erstaunlich finde ich, dass bei Gottfried Keller (1819-1890) in seinen im 18. Jahrhundert angesiedelten Novellen beim WaldhornStichwort Tanzmusik immer das Waldhorn im Vordergrund steht. So zum Beispiel in «Romeo und Julia auf dem Dorfe» und im «Landvogt von Greifensee», wo Keller aus Salomon Landolt einen praktizierenden Hornisten macht und auch die Musikkapelle auf dem Begleitschiff bei der Ausfahrt auf dem Greifensee aus Waldhörnern besteht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die damaligen Naturhörner in der Volksmusik derart präsent waren. Vielmehr muss Gottfried Keller, gleich wie der Autor dieser Betrachtung, ein unverbesserlicher Horn-Fan gewesen sein.

Blaskapellen

Dank der Entwicklung bei den Militärmusiken waren im 19. Jahrhundert die am nächsten beim Volk liegenden und am einfachsten verfügbaren Instrumente die moderneren Blasinstrumente, welche von den erwähnten Hirtenschalmeien und Sackpfeifen abstammten. Mit der Erfindung der Ventile bei den Blechblasinstrumenten wurden diese universell einsetzbar und vor allem leichter spielbar. Alte ländliche Tanzmusikformationen waren vorzugsweise kleine Blaskapellen, eventuell ergänzt mit einem Akkordeon. Stilmässig wurde diese Szene allerdings absolut dominiert von Bayern (Oktoberfest-Biermusik). Ein echter Schweizerstil konnte sich nur schwerlich etablieren. Bekannt wurden immerhin die Stücke und der Stil der Freudenberger-Dorfmusik, in der Romandie die Musiques Champêtres und im Tessin die Spielart der Bandella Ticinese. Ab 1960 wuchsen die Blaskapellen plötzlich auf 12 bis 20 Bläser an und verlegten sich mehr und mehr auf den böhmisch-mährischen Egerländerstil, wie er durch die vertriebenen Sudetendeutschen aus Tschechien zu uns gebracht wurde.

Neuzeit

Jene Ländlermusik, die im Schweizer Mittelland Krethi und Plethi für den Inbegriff der Schweizer Volksmusik hält, das ist der Innerschweizer-Stil. Diese Stilrichtung hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts infolge einsetzender Kommerzialisierung den Stallgeruch der bäuerlichen Hausmusik abgelegt und eine starke Wandlung erlebt.

Es waren die Pioniere selber (Kasi Geisser, Heiri Meier, Stocker Sepp, Jost Ribary sen., Albert Hagen, und wie sie alle hiessen), welche durch berufsmässiges Auftreten in einschlägigen Vergnügungslokalen und durch das Aufkommen von Schallplatte und Radio in eine Modernisierungswelle hineingezogen wurden. Dem chromatischen Akkordeon, dem Klavier und dem Saxophon konnte wegen der modernen Tänze, wie dem Foxtrott, der Einzug nicht verwehrt werden.

Die Diskussionen in orthodoxen Volksmusikerkreisen um Verstösse gegen Besetzungsregeln bis hin zum Vorwurf der Blasphemie sind heute schon eher nicht mehr so ernst zu nehmen. Immerhin gibt es ja die Appenzeller und die Bündner. Angesichts der vollelektronischen Zillertaler Schürzenjäger, Kastelruther-Spatzen, Fidelen Mölltaler, Paldauer, usw. ein überholter Diskussionsstoff.

Österreich

Von zwei etablierten Volksmusiksendungen auf ORF 2 weiss ich, dass es dortzulande für Musikantenstadl-Verächter noch eine andere Art von urtümlicher Volksmusik gibt. Etwas, was mich in Staunen versetzt und wovon ich glaube, dass wir uns ein Stück davon abschneiden könnten:

Kleine Blaskapellen mit Klarinette, 2 Flügelhörnern, weit mensurierter Ventilposaune und Tuba. Ferner: Hausmusik-Ensembles mit Streichern, Zupfinstrumenten wie der erstaunlich weit verbreiteten Harfe, ZitheSteirische Harmonikar und Konzertgitarre, bei denen man sich fragt, woher diese Ensembles die meist noch jungen sehr qualifizierten Instrumentalisten auf diesen Spezialinstrumenten rekrutieren. Bei beiden Formationen darf natürlich die Steirische Ziehharmonika mit diesen unverwechselbaren, schnarrenden «Helikon»-Bässen nicht fehlen. Nicht zu vergessen die Gesangsensembles mit sogenannten Dreier- oder Vierergesängen, mit und ohne Begleitung. Gespielt und gesungen werden ausnahmslos alt-überlieferte Volksweisen oder aber im urtümlichen Stil komponierte Tänze.

Was für mich einzigartig ist, das ist diese durchwegs perfekte Interpretation von professionell arrangierten Stücken. Kammermusik im Volkston auf höchstem Niveau. Das ist dann allerdings auch weit weg von Ättis Stegreifstückli auf dem Stallbänkli. Aber wunderschön zum Zuhören.

Landesstudio Tirol, Innsbruck: Mei liabste Weis (Hochkarätige Stubete-Sendung mit Franz Posch)

Landesstudio Steiermark, Graz: Klingendes Österreich (Landschaftsbilder mit Sepp Forcher)